Die Literatur im DaF-Unterricht

 

Die Verabschiedung der Literatur aus dem Fremdsprachenunterricht erfolgte nahezu unbemerkt, aber radikal. Seit der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen zur Bibel des Sprachenlehrens avanciert ist, werden, wenn überhaupt, diesbezügliche Auseinandersetzungen als Glaubensfragen abgehandelt. Dabei möchte der Referenzrahmen selbst, nicht mehr als einen Rahmen anbieten, in dem wir unsere Tätigkeiten sinnvoll koordinieren und anpassen können.

 

„Wir hoffen sogar, dass einige Leserinnen und Leser dazu angeregt werden, dieses Dokument in einer Weise zu nutzen, die wir nicht vorgesehen haben. (...) Wir wollen Praktikern NICHT sagen, was sie tun sollen oder wie sie etwas tun sollen. Wir stellen nur Fragen, wir geben keine Antworten.“[1]

 

Platz genug also, um neue Freiräume zu schaffen und Lehrenden und Lernenden den Unterschied zwischen Sprachenlernen und einer Fast Food Pizza sinnvoll und überzeugend zu erklären.

Am Referenzrahmen kann es also nicht liegen. Schaut man in die derzeit gängigen DaF-Lehrwerke nach, wird man vergeblich nach literarischen Texten suchen. Hie und da einer als Glasur, Beiwerk.

Handlungsorientiertes Lernen, Blended Learning, Kommunikativer Fremdsprachenunterricht. So schnell wie sich die Begriffe ändern, kann kaum gelebt werden. Und immer, wie alle Fußball- und inzwischen auch Sprachen-, DaF- und DaZ-TrainerInnen wissen, nach den Richtlinien des Referenzrahmens.

Gemeinsam mit dem Begriff Literatur wurde auch jener der traditionellen Grammatik samt und sonders aus den Regalen geworfen. Dafür ist jedes Sprachwerk heute mit mindestens 4 Zusatzmaterialien ausgestattet: Arbeitsbuch, Cd, Vokabeltrainer, Grammatikübungen usw. Insgesamt ein Paket so um die 50 Euro. Aber ist ja nicht verpflichtend. Jeder kann sich das holen, was er gerade braucht. Ein schönes Warenhaus des Sprachenlernens.

Alles ist möglich, nichts muss sein.

So könnte man weiter jammern bis die Zeit um ist. Jammern aber beruhigt zwar das Gewissen, doch bereichert es das Wissen nicht. Und daher ein paar Überlegungen dazu, was die Literatur im Fremdsprachenunterricht doch noch leisten kann bzw. könnte.

„Die Bereitstellung aller dieser Materialien hat nur einen Zweck: für Lehrende und Lernende den Spielraum Literatur zu vergrößern.“[2]

Und diesen Spielraum gilt es wieder zu nutzen. Die Anthologien von Dietrich Krusche („Mit der Zeit“[3], „Aufschluss“[4]) und Hans Weber („Vorschläge“[5], „Vorschläge 2“[6]) zu Beginn der 90er Jahre waren ein mutiger Versuch, den Beliebigkeiten der herkömmlichen DaF-Lehrwerke anspruchsvollere und didaktisch aufbereitete Texte entgegen zu stellen. Krusches Anliegen war geprägt von der Überzeugung, dass Poesie als „Muttersprache der Menschheit“[7] bei den Lernern Neugierde und positive Unsicherheit evozieren würde (im Sinne von Abbau bzw. Hinterfragung vorgefertigter Bilder/Meinungen zu Themenbereichen, welche die Zielsprache betreffen). Dementsprechend wurde auch der Aufbau von der Anthologie „Mit der Zeit“ konzipiert. Ausgehend vom 20. Jahrhundert, von dort also, wo sich das lernende Ich im kulturellen Kontext befindet/befunden hat, führte die Anthologie in drei Teilen zurück bis zum Minnesang. Ein Angebot, in dem jeder das finden konnte, was er für sich und seine Lern- und Lehrsituation als passend empfand. Ergänzt wurde diese Sammlung mit Overheadfolien der Texte, einem Band mit Erläuterungen und Materialien und mit einer Tonkassette mit allen Gedichten. Multimedial also, aber erstens kostenlos an die Lehrenden über Inter Nationes verteilt und zweitens nicht in voneinander losgelösten Modulen sondern in einer sinnvollen Einheit, aus der sich Module problemlos einzeln und autonom bearbeiten ließen.

 

„Angehörige verschiedener Kulturen lesen von verschiedenen Vorerfahrungen aus, so wie jede Generation anders liest als die vorherige. Daher gilt für fremdsprachliche Poesie mehr noch als für die muttersprachliche: Es geht nicht darum, sie endgültig richtig zu lesen, ihre Bedeutung ein für allemal und für alle am Lesergespräch Beteiligten festzulegen, die Bedeutung der Texte zu identifizieren. Je mehr ein Lesergespräch (...) von vornherein auf Festlegung aus ist, desto öder wird es“.[8]

 

Den Anthologien von Krusche und Weber stand der Gegensatz das Eigene und das Fremde [9] Pate. Fasziniert von den Möglichkeiten des anderen Sehens und anderen Lesens wurden hier vor allem kulturelle Differenzen und Gemeinsamkeiten als lernmotivierende Faktoren in den Vordergrund gehoben. Die interkulturelle Germanistik stellte die bis dahin geltende Vorherrschaft der so genannten Inlandsgermanistik zur Disposition was sich auch auf den Fremdsprachenunterricht auswirkte. Das richtige Lesen bzw. Verstehen von Texten wurde ersetzt von Fragen nach anderen Bezugssystemen, nach anderen, ebenso gültigen Lesemöglichkeiten.

Dies bedeutete für die Lehrbuchproduktion u.a. auch, dass es nun möglich wurde, den Perspektivenwechsel bei der Reflexion eines Textes nicht als Hindernis, sondern als unumgänglich und für alle Beteiligten auch als produktiv anzusehen. Demzufolge wurden auch Tendenzen unterstützt, die versuchten, aus solchen Überlegungen heraus die Entwicklung der DaF-Lehrwerke dahin gehend mitzubestimmen, dass eine Internationalisierung zu erreichen versucht wurde, indem man die Lehrwerkproduktion nationalisierte, d.h., man glaubte an kulturelle Differenzen und wollte diesen auch Rechnung tragen, indem man sich auf den Standpunkt stellte, dass z.B. indische Germanisten die Anforderungen ihrer Klientel besser verstehen und damit auch ein besseres Lehrbuch entwickeln würden, als Didaktiker und Pädagogen des Zielsprachenlandes, welche diese Differenz zwischen Ausgangs- und Zielsprache nicht ausreichend berücksichtigen können. Goethe-Institut, Inter Nationes und die deutsche Welle unterstützen bis heute eine solche Entwicklung, in der auch die Literatur ihren festen Stellenwert hat.

„Das Interesse an der deutschen Kultur heute ist sicherlich das erste Interesse dem Deutschen als Fremdkultur gegenüber“[10], schrieb Krusche 1987. Festzustellen, ob dieser Satz heute noch Gültigkeit haben kann, wäre eine der Aufgaben, der wir uns stellen sollten.

Goethe in Peking wurde also nicht mit einem müden Lächeln quittiert, sondern sollte umgekehrt dahingehend wirkungsvoll werden, dass nun in Berlin, Bern oder Wien Konfuzius auch auf Chinesisch gelesen wird. Diese Entwicklung hat bis heute kaum stattgefunden.

 

Die Suche

 

Höhepunkt der hier nur kurz skizzierten Entwicklung war 1993 das bei Langenscheidt erschienene Lehrwerk „Die Suche. Das andere Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache“[11]. Dass sich ein renommierter Autor an ein DaF-Lehrwerk heranwagt war ebenso neuartig wie die Tatsache, dass sich Hans Magnus Enzensberger beim Schreiben dieses Lernromans an die von den mitwirkenden Linguisten vorgeschriebene Grammatikprogression zu halten hatte. Damit wurde ein Konzept beendet, dessen Anfänge in den 1980er Jahren zu suchen sind. Der Autor schreibt für Nicht-Muttersprachler einen Text mit dem Ziel, diesen damit auch, aber eben nicht nur, die eigene Sprache zu vermitteln. „Die Suche“ kann man auch als eines der ganz wenigen, oder gar als das einzige DaF-Lehrwerk bezeichnen, das in der ersten Lektion nicht die Worte „ich heiße“ oder „wie geht es Ihnen“ enthält. In diesem Lehrwerk haben sich Literatur und Sprachdidaktik getroffen und ein Zeichen gesetzt, wie engagiertes Arbeiten in der Lehrmittelproduktion aussehen könnte.

Aufgebaut als Krimi wird der Text in kleinen Portionen den Lernern näher gebracht, versehen mit vielen zusätzlichen Informationen, Übungen, Erklärungen usw., die je nach Bedarf von Lernern oder Lehrenden eingesetzt werden können. „Die Suche“ machte ihrem Untertitel „das andere Lehrwerk“ alle Ehre: noch nie zuvor wurden die bis dahin bekannten Kriterien und Gepflogenheiten hinsichtlich der Fremdsprachendidaktik derart über den Haufen geworfen, wie bei diesem Buch, dem zwei Jahre später ein zweiter Band folgte, dessen Text nach demselben Muster von dem Schriftsteller Peter Schneider geschrieben wurde[12]. „Die Suche“ war eines der aufregendsten Kapitel der jüngeren DaF-Lehrwerkproduktion. Schade, dass dies kaum jemand bemerkt hat. Nach genau 10 Jahren wurde „Die Suche“ 2003 vom Verlag zu Grabe getragen und seitdem auch kaum noch erwähnt.[13]

 

Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen

 

Was daraufhin folgte, war die Implementierung des großen Wurfs, des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens. Und obwohl, wie eingangs erwähnt, die AutorInnen des Referenzrahmens sowohl Lehrenden als auch Lernenden sehr große Freiheiten anbieten, wie diese einzelnen Anforderungen konkret umzusetzen sind, scheint es, zumindest bis heute, doch so zu sein, dass dieser Rahmen nicht als Sicherheitsgeländer für die Beteiligten sondern eher als Klettersteig für Sportler angesehen wird. Und da der Ansatz ein kommunikativer sein muss und Literatur aus einem unerfindlichen Grund derzeit als nicht kommunikativ eingestuft wird („Lies nicht so viel! Schau nicht so viel! Surf nicht so viel!“), findet man in den Lehrwerken heute diverse Texte, nur eben keine, oder nur selten, literarische.

Dies als Möglichkeit zu sehen, ist für alle wichtig, die daran glauben, dass man – auch – mit literarischen Texten eine Sprache lehren und lernen kann. Denn obwohl der Referenzrahmen einem modernen Sprachvermittlungskonzept Rechnung trägt, so wirkt er auf einer anderen Weise erstaunlich antiquiert und sehr statisch. In den Lernzielbeschreibungen zum Referenzrahmen[14], deren wesentliche Informationen auf einer mitgelieferten CD enthalten sind, fehlt das Internet sowohl als Kommunikationsmedium selbst wie auch dessen verschiedene Textsorten, z.B. SMS, E-Mail oder Blog[15], zur Gänze.

Und genau hier gibt es die Möglichkeit, in den Sprachunterricht die Vielfalt des Internets einzubringen. In Bezug auf Literatur bedeutet dies, dass im Unterschied zur Ära vor dem Netz, jetzt auch wieder ein neuer Begriff von Literatur angedacht werden muss, da wir uns der Frage stellen müssen, ob denn ein Auszug des „Herrn Karl“ auf youtube[16] wirklich der Literatur und nicht eher dem Film zuzuordnen ist. Ähnliche Probleme ergeben sich beim Portal lyrikline[17], wenn im Unterricht die Stimme von Ingeborg Bachmann zu hören ist, die ihre Texte vorträgt. Wenn wir den Begriff Literatur weiter zu fassen im Stande sind, wenn Kunst als etwas verstanden wird, das sich selbst immer wieder jeglicher Fixierung und Normierung zu widersetzen hat, dann gibt es in der Tat durch das Internet eine schier unendliche Materialsammlung für den Unterricht, in der die Hierarchie zwischen Schüler und Lehrer leicht und schnell durcheinander kommen kann.

Dass die digitalen Medien unser Leben, zumindest nach außen, in den letzten zehn Jahren radikal verändert haben, wird kaum jemand abstreiten können. Wer ohne Handy lebt ist nicht mehr präsent. Wer keine E-Mail-Adresse angeben kann ist von weiten Teilen der Kommunikationsgesellschaft ausgeschlossen. Wir älteren Teilnehmer am Leben haben alle Hände voll zu tun, noch irgendwie diesen Entwicklungen folgen zu können, unsere Schüler scheinen in unseren Augen damit jonglieren zu können, als ob sie es angeboren bekommen hätten. Macht es denn also für die meisten von uns überhaupt noch Sinn, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die unsere Fähigkeiten zu übersteigern scheinen?

Antworten darauf muss jeder für sich selbst finden. Fest steht, dass wir, wenn wir uns nicht damit beschäftigen, den Alltag unserer Schüler nicht mehr verstehen werden und somit auch nicht fähig sein können, uns auf deren Bedürfnisse einzustellen. Folge davon kann nur noch ein referenzrahmenautoritärer Unterricht sein, wie ihn der Referenzrahmen selbst in keiner Weise vorsieht.

Was also tun? Die Qualitätshierarchien im Netz sind so unterschiedlich wie die Individuen, die selbige via Internet weltweit zugänglich machen. Aufbruch ist also angesagt, Aufbruch in das scheinbar chaotische Netz, das den sicheren Formen des Referenzrahmens ein würdiges Spiegelbild zu sein scheint. Für die Didaktiker ein beruhigendes Bild: der Referenzrahmen liefert normierte Kriterien zur Leistungsbeurteilung, das Netz liefert pausenlos neues Unterrichtsmaterial.

Wie jedoch sich dort orientieren? Solange wir uns in dieser Phase des Umbruchs befinden, in der niemand behaupten kann, was allein die nähere Zukunft mit sich bringen wird, sind wir Lehrenden wohl vor allem auf uns selbst und auf das Vertrauen in einige wenige Anbieter im Internet angewiesen. Im Folgenden also einige, zugegebenermaßen sehr subjektive Anregungen dazu, wie sich Literatur aus dem Internet im Klassenraum effektiv einsetzen lässt.

 

Die Chamisso-Preisträger

 

Der seit 1986 von der Robert Koch Stiftung alljährliche vergebene Adalbert von Chamisso Preis ist inzwischen auch eine im deutschsprachigen Literaturbetrieb anerkannte Würdigung „deutsch schreibende(r) Autoren nicht deutscher Muttersprache“[18]. Das mag eine etwas holprige Formulierung sein, passt aber gut zu den Schwierigkeiten, die unser Literaturbetrieb mit AutorInnen hat, welche von ihrer Sprachgeschichte her gut zu unseren SchülerInnen/StudentInnen zu passen scheinen: Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache. Damit ist eine Ausgangslage gegeben, in der sich viele Studierende wieder finden bzw. sogar Vorteile dem Lehrenden gegenüber vorweisen können: Auch ich komme aus (...). Das Fremdsein der AutorInnen kann der Versicherung für die Deutsch-Lernenden zu Nutze gemacht werden, nicht allein mit ihren sprachlichen und kulturellen Problemen zu stehen. Diese Literatur setzt sich über nationale Grenzen hinweg. Mag sein, dass dadurch neue aufgezogen werden.

Die Chamisso-Seite bietet sich zum Stöbern an, zum Suchen und Diskutieren. Da es keine weiterführende Links zu den AutorInnen gibt, liegt es im Ermessen jedes Einzelnen oder in der vorgegebenen Aufgabenstellung durch die Lehrenden - oder doch klangvoller TrainerInnen - , was dann mit dem angebotenen Material gemacht werden soll. Von Hörverständnisübungen über Filmbeschreibungen und Textinterpretation bis hin zu Diskussionsanregungen und Minivorträgen sind alle Formen der Didaktisierung möglich. Die zu den meisten AutorInnen bereit gestellten Kurzvideos geben den Texten für den Sprachunterricht ein hilfestellende Interpretation über das Auge. Von der Mongolei Galsan Tschinags[19] bis zum Schwarzwald von José F.A. Olivier[20] ist auch geographisch eine interessante Perspektive vorgegeben.

 

lyrikline

 

Seit 1999 im Netz ist lyrikline.org[21], eine Seite der literaturWERKstatt berlin[22], die es sich zum Ziel gemacht hat

 

über den multimedialen Erlebnischarakter, den das Internet bietet (Text, Bild, Ton), den Verbreitungs- und Bekanntheitsgrad sowie die Rezeptions- und Verkaufsmöglichkeiten von deutschsprachiger Lyrik weltweit zu mehren.“[23]

 

Dieses Anliegen mag auf den ersten Blick etwas zu anspruchsvoll klingen, aus einer österreichischen Perspektive also echt ,deutsch‘, wer sich jedoch ein wenig Zeit nimmt, kann sich leicht davon überzeugen, dass hier tatsächlich ein weltumfassendes Lyrik-Portal entstanden ist und entsteht, welches jede Anthologie inzwischen etwas „klein“ bzw. dürftig erscheinen lässt.

 

lyrikline.org präsentiert zeitgenössische Poesie multimedial als Originaltext, in Übersetzungen und vom Autor oder der Autorin in Originalsprache gesprochen. Sie finden auf lyrikline.org über 6308 Gedichte von 698 Dichtern aus 55 Sprachen und über 7621 Übersetzungen in 52 Sprachen!“[24]

 

Eine Vielfalt von Trägern (Goethe-Institut, Pro Helvetia, die Zentral- und Landesbibliothek Berlin) garantieren dafür, dass unter dem Begriff Lyrik auch mehr oder weniger das gesammelt wird, was man sich darunter erwartet. Ein Kuratorium, dem auch SchriftstellerInnen angehören, soll für die Qualität bürgen, für den Zusammenhang innerhalb des Portals von völlig unterschiedlichen Textformen, denen nicht einmal eine gemeinsame Sprache als Ausgangslage dient, sondern nur eine Form: die lyrische.

Gehen wir also einmal davon aus, was in unserem Land so leicht und gerne mit Migrantensprachen tituliert wird, was ja nichts anderes bedeutet, als dass wir Angst davor haben, die ganze Welt könnte nach unseren Bergen und Seen trachten und uns am Ende wohl auch noch die Texte unserer schönen Hymnen nehmen. Gehen wir von den Muttersprachen unserer StudentInnen aus und lassen uns erzählen, erklären, berichtigen. Lassen wir uns also bezaubern von anderen Schriftzeichen und anderen Klängen und geben wir kurz unsere lehrenden Kompetenzen ab, indem wir uns von Muttersprachlern ihre Gedichte auf Deutsch präsentieren lassen. Dies würde dem handlungsorientierten Ansatz durchaus Rechnung tragen, der von den neuesten Fremdsprachendidaktikern so vehement eingefordert wird.

Auf der anderen Seite können unsere StudentInnen nach Übersetzungen von deutschen Gedichten in ihrer Muttersprache suchen, auf Probleme der Übersetzung hinweisen, auf idiomatische Schwierigkeiten usw.

 

intermezzo finale

 

Zum Abschluss noch eine kurze Vorschau, wie ein solcher Unterricht mit Lehrmaterialien aus dem Internet ausschauen könnte. Ausgehend von dem Gedicht „wien heldenplatz“[25] von Ernst Jandl, wobei je nach Niveaustufe Aussprache, Intonation, Wortbildung, Etymologie u.v.m. geübt werden können, ist es ohne weiters möglich auch kulturelle, historische, landeskundliche oder auch künstlerische Aspekte einzubringen, indem z.B. folgende Videos von youtube eingespielt werden: zunächst die Rede von Charlie Chaplin als Diktator Hinkel aus dem Film „The Great Dictator“[26], dann das kurze Dokument von Hitlers Rede am Heldenplatz[27], um abschließend wieder zum Text von Jandl zurückzukehren.

Ein solcher Umgang mit Literatur im Fremdsprachenunterricht mag auf den ersten Blick vielleicht befremdend, chaotisch oder zu wenig didaktisiert erscheinen, er funktioniert aber gerade immer dann, wenn kein klares Ziel vorgegeben wird, wenn es auch im Unterricht möglich bleibt zu surfen, zu spielen, wenn die TeilnehmerInnen die Gewissheit haben, dass hier nicht etwas zu lernen ist, was später in irgendeiner Form geprüft wird, sondern sich sicher sein können, jederzeit im Unterricht auch selbst den Computer als Lern- und Lehrmittel einsetzen zu können.

So gesehen kann und wird Literatur für das Sprachenlernen wieder zu dem, was einst schon von Erich Kästner gefordert wurde:

 

„Ich könnte euch Verschiedenes erzählen,

was nicht in euren Lesebüchern steht.

Geschichten, welche im Geschichtsbuch fehlen,

sind immer die, um die sich alles dreht.“[28]

 

 

 

 

 


In: 

Perspektiven der Literaturvermittlung (Hrsg. v. Stefan Neuhaus und Oliver Ruf). Innsbruck 2011. StudienVerlag. S. 327-335.



[1] Europarat. Rat für kulturelle Zusammenarbeit: Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin, München, Wien, Zürich, New York: Langenscheidt 2001, S. 8.

[2] Dietrich Krusche: Aufschluss. Kurze deutsche Prosa im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Bonn: Inter Nationes 1987, S 7.

[3] Dietrich: Krusche: Mit der Zeit. Gedichte in ihren Epochen ausgewählt für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Bonn: Inter Nationes 1990.

[4] Krusche: Aufschluss.

[5] Hans Weber: Vorschläge. Literarische Texte für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Bonn: Inter Nationes 1990.

[6] Hans Weber: Vorschläge 2. Literarische Texte für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Bonn: Inter Nationes 1995.

[7] Krusche: Mit der Zeit. Teil II, S. 7.

[8] Krusche: Mit der Zeit. Teil II, S. 10.

[9] Ein Begriff, den Alois Wierlacher 1985 durch die Herausgabe des gleichnamigen Buches vorgestellt hat, und der für die Germanistik der 1990er Jahre prägend war.

[10] Krusche: Aufschluss. S. 7.

[11] Eismann, Volker/Enzensberger, Hans Magnus/et. al.: Die Suche. Das andere Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache. Textbuch 1. Berlin, München, Wien, Zürich, New York: Langenscheidt 1993.

[12] Eismann, Volker/Schneider, Peter/et. al.: Die Suche. Das andere Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache. Textbuch 2. Berlin, München, Wien, Zürich, New York: Langenscheidt 1995.

[13] Eines der wenigen Beispiele für eine später wirkende Rezeption ist folgender Beitrag von Michael Schart: Die Suche – ein Nachruf. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Jahrgang 10, Nr. 2, Mai 2005. URL: http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-10-2/beitrag/Schart3.htm. Rev. 25.08.2010.

[14] Glaboniat/Müller/Rusch/et. al.: Profile deutsch. Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen. Berlin und München: Langenscheidt 2005.

[15] ebda. S. 231f.

[16] URL: http://www.youtube.com/. Rev. 25.08.2010.

[17] URL: http://lyrikline.org/. Rev. 25.08.2010.

[18] Über den ChamissoPreis. URL: http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp. Rev. 25.08.2010.

[21] http://lyrikline.org/ Rev. 25.08.2010.

[25] Ernst Jandl: wien heldenplatz. Laut und Luise. Stuttgart: Reclam 1991, S. 37. URL: http://lyrikline.org/index.php?id=162&L=0&author=ej00&show=Poems&poemId=1229&cHash=68939d713c. Rev. 25.08.2010.

[26] Hinkels Rede. URL: http://www.youtube.com/watch?v=DkL6azMwJ-U. Rev. 25.08.2010.

[27] Hitler am Heldenplatz. URL: http://www.youtube.com/watch?v=r1IC4qcEsEc&feature=search. Rev 25.08.2010.

[28] Erich Kästner: Ein alter Herr geht vorüber. Gedichte. Stuttgart: Reclam Universal-Bibliothek 1998.