50+♂

 

„geh in frühpension. solange das noch geht. bald wird nämlich auch da der hahn zugedreht und dann gibts nur noch: glotze an und bier.“

gute freunde geben immer im passendsten moment die besten ratschläge. wie konnte das alles so kommen, wie es gekommen ist? gibt es schuldige? wars ich? oder die gesellschaft? oder dieser arsch von halbfreund, der mir aus unerfindlichen gründen alle knüppel in den weg geworfen hat, die auffindbar waren? wieso bin ich also jetzt ohne arbeit? und ohne jede aussicht am ende des lebens noch einmal einer geregelten, hundsnormalen beschäftigung nachgehen zu können?

ende des lebens. bin ja grad erst mal mitte fünfzig. „bleib wo du bist. hier wirds dir schlecht ergehen“. ja, ich wurde vorgewarnt. weit weg gezogen in jungen jahren und wenn du dann wiederkommst, dann kriegst du die rechnung präsentiert. „wärst halt hier geblieben. wärst halt dort geblieben. wir habens dir ja gesagt.“

die heimat. schöne heimat. nicht einmal danke für die ganze arbeit, die ich auch im namen der heimat geleistet habe. jetzt, da ich arbeitslos bin, ist plötzlich auch die heimat verschwunden.

 

der hats nicht auf die reihe gebracht. eine niete. dabei nicht unbegabt. aber eben ein sturschädel. und ein weichei. weil: die anderen habens ja irgendwie geschafft. können zumindest die familie ernähren. vielleicht nicht ganz. die frau muss dazu verdienen. doch immerhin. und wenn du dann da ziemlich weit unten herum sumpfst, dann zieht dir leicht und schnell etwas das bisschen boden unter den füßen weg. „bei gleichwertiger qualifikation werden bevorzugt frauen eingestellt“. wunderbar. nur dass die weiber bei gleicher arbeit weniger geld bekommen wird in diesem zusammenhang nicht erwähnt. also lohnt es sich für die wirtschaft. genderförderung und billiger. eine winwin-situation. für mich eine loselosige. weil jetzt die frau noch weniger verdient als ich verdienen würde, wenn ich ihren job hätte, muss ich jedes noch so miese tun annehmen. besser: müsste ich annehmen. weil die miesen jobs sind ja schon von frauen besetzt, und da überlegt sich jeder zehnmal ein mannsbild anzustellen, das ja teurer wird.

 

die freiheit ist so eine sache. die musst du dir erst einmal hart erkämpfen. freiheit von den eltern, dann von den lehrern, die dazu zu existieren scheinen, dir das leben zu vermiesen. kommen von der uni und glauben, ihre dort gelernten neuen weisheiten, die immer mindestens zehn jahre zu alt sind, den kindern als futuristisches knowhow einprügeln zu müssen. „schauts bei wikipedia nach“! dabei können die kinder mit der technik dermaßen spielerisch umgehen, dass die lehrer alle notbremsen ziehen müssen, um sich nicht als blöd zu entlarven. andrerseits: es ist wohl gut so. die kinder freuen sich, dass die lehrer so bescheuert sind und haben die hausaufgabe in zwei minuten mit ein paar tastenkombinationen gelöst. die meisten. jene, die noch keinen pc haben, schauen durch die finger, verstehen nichts und werden ausgesondert. in die lehre. aber dort: da geht die post ab. wenn du nicht spurst, freuen sich die zehn anderen in der warteschleife. zur not gibts ja genügende mit migrationshintergrund. als ob das ein schimpfwort wäre und keine zusatzqualifikation.

 

als kind konnte ich ewig lang den himmel betrachten oder auch die tapetenmuster im wohnzimmer. da war immer was los. die wolken verschoben sich, aber auch der wolkenlose himmel veränderte sich ständig, keinen augenblick blieben die bilder die gleichen. die ornamente auf den tapeten begannen zu schimmern und es wurden figuren und köpfe sichtbar. der schritt in die andere welt war ein leichter und ein erfreulicher. wars schön, konnte ich stundenlang dort verweilen. wars grauslig, klickte ich mich schnell aus und war wieder daheim in sicherheit.

 

heute ist das mit den träumereien eine verflixte sache geworden. sofort, wenn die fantasie zu arbeiten beginnt, tun sich untiefen auf, wird alles dunkel und düster, und das offene fenster eine einladung zum absprung. alles dreht sich immer nur nach unten, in die tiefe. seltsam: dieses oben und unten, himmel und hölle. jetzt bin ich ja wirklich kein gläubiger mensch. war schon als kind geheilt vom glauben. ein einziges mal so eine schmierig, verschwitzte hand an meinem nackten oberschenkel hat genügt um zu wissen, dass diese segensreichen stimmen und zeitlupenbewegungen der kirchenmänner mit mir nichts zu tun haben sollen. kein schock, auch kein ekel. aber die bestimmte überzeugung, da nicht dazu gehören zu wollen. eine befreiung. seither glaube ich recht fröhlich vor mich hin. aber jetzt geht eben immer alles nach unten und ich frage mich, warum dieses abwärts so negativ sein muss, warum es nicht sein kann, dass das hinunter genau so schön sein kein wie das hinauf? wer oder was gibt die richtung vor? ich muss nach oben! ist es vielleicht diese einseitige, sture zielvorgabe? damit wir uns nicht ständig vor augen führen müssen, dass da unten oder am ende das nichts wartet? der aufstieg ein weglaufen vom tod. so gesehen müssten einem die aufsteiger ja eigentlich leid tun. laufen ständig nach oben, hinauf, nur weil sie angst haben vor dem sterben. burn outs, lebenslange depressionen, pillen, alk und koks. nikotin ist vorerst nicht mehr gesellschaftsfähig. eigentlich lächerlich.

 

mein opa hatte zwischen zeige- und mittelfinger der rechten hand, vorne bei den dritten gliedern, die haut vom nikotin schön gelblich verfärbt. „a tschigg“ (kippe) und „tschiggn“ waren bezeichnungen, die seine lebensgeister beruhigten. und wie der alte mann, der damals jünger war als ich jetzt, mit überzeugung und stolz den rauch inhalierte, um ihn dann langsam und behutsam wieder der welt zurück zu schenken, war mir eine bestätigung dafür, dass rauchen ein friedliches unterfangen ist, das niemandem schadet. nur die oma war anderer meinung und schimpfte, was mich in meiner haltung jedoch eher bestärkte. der opa tut was richtiges und die weiber haben keine ahnung. es wurde geraucht: beim mittagessen, im auto, in der schule, in der vorlesung, im zug, im flugzeug, im kino, in den ämtern, im krankenhaus. heute geht man auf den balkon, wenn man einen hat. oder kokst. aber sonst: rauchen? pfui teufel. passivraucher, passivwichser.

 

ich hab auch aufgehört. geht ja ins geld. wenn immer weniger rauchen, muss der staat die tabakpreise nach oben schrauben, damit er zumindest gleich viel einnimmt, wie wenn alle rauchen, und damit die gesundheitsreformen finanzieren kann. oder neue panzer. und das rauchen lassen war eine heikle sache. tagsüber gehts ja, da schau ich mir halt im internet die ganzen weiber an oder eben sport und das lenkt schon ab von der sucht, aber nachts dann im traum wird alles recht anstrengend und ich war wochenlang am morgen immer klitschnass von den entzugserscheinungen. und schlafen natürlich auch miserabel. aber so lange du arbeit hast geht auch das. erst wenn dann plötzlich alles aus ist und es heißt: stempeln gehen, aber dann kommst du drauf, dass stempeln gehen für dich nicht in frage kommt, weil du aus dem system heraus fällst, weil du da ja noch nie so richtig drinnen warst, weil du eben zu lange im ausland usw. also dann wär so ein tschigg schon eine nützliche sache. beruhigt. weil ich da aber grad mit dem rauchen aufgehört hatte, waren im moment keine zigaretten zur stelle, und ich bin zum ersten mal viel tiefer gesunken, als ich jemals geglaubt hatte sinken zu können. so wie im traum, wenn du irgendwo hinunter fällst. aber im traum wacht man ja immer auf, bevor oder gerade wenn man irgendwo aufschlägt. ich aber hatte da auf dem arbeitsamt das gefühl, dass das nie aufhört mit dem fallen und musste mich setzten, um dann sofort wieder aufzustehen, weil auch der stuhl, auf den ich mich setzte, diese reise nach unten beschleunigte. und so lief ich ein paar stunden ziellos herum, bis es irgendwann zu ende war. bis dahin war aber fast ein leben vergangen, das mir unbekannt war, genau so wie die hauptperson, wie ich, das ich. ich war mir fremd und hatte todesangst vor mir selbst. dazu hörte ich die geräusche um mich herum verzerrt und unverständlich, die lippen der menschen bewegten sich, der ton gelangte aber erst mit ziemlicher verspätung an meine ohren. gestummel. und die häuser bekamen leichte bäuche und neigten sich in der windstille, während die autos geräuschlos auf wogenden straßen fuhren. und das ich da drinnen und wollte weinen um sich zu beruhigen, aber keine einzige träne war hervor zu bringen, nur das nackte entsetzten, das grauen, drückte seine hand in den nacken und schob diese kreatur, also mich, wider willen durch die stadt.

 

so ein arbeitsloser tag kann lang sein. und eh du dich umschaust ist er auch wieder zu ende. „hast du wieder einen job, papa?“ wie gerne würde ich lügen können, um zumindest den kindern diese schmach zu ersparen. aber wie soll man da lügen, wenn man für sich selbst schon keine kraft mehr hat und das schlafen gehen gleich anstrengend ist wie das aufstehen? wenn um sechs der wecker läutet ist es oft eine erlösung. aber dann gleich: duschen, kaffee aufstellen, rasieren, frau und kinder wecken. und gleich wieder die angst. was soll ich machen, wenn alle draußen sind? alles schon repariert, geputzt, gemalt. und vom bügeleisen ist noch niemand befriedigt worden. um 8.15 beginnt mein einsamer tag. lesen. was? und wozu? die stellenangebote in der tageszeitung vergrößern das frustpotential, jemanden anrufen ist zwecklos, das thema bleibt immer das gleiche, wohlwollende ratschläge, die alle verletzend sind, weil alle so tun, als läge es an mir, als sei ich der trottel, der zu blöd ist, wo es doch die meisten anderen schaffen und nur die wirklichen deppen auf der strecke bleiben.

 

spazieren gehen. aber wenn ich irgendwie in die natur gehe, da sind dann diese vielen bäume mit den langen ästen und laden förmlich den wanderer, der da ich bin, ein, eine schlinge drum herum zu legen und ein bisschen die seel baumeln zu lassen. die bäume reden auf mich ein und grinsen hämisch, wenn der wind in sie fährt und das holz zu knirschen beginnt. zu gefährlich ist diese natur, also doch eher in die stadt, in irgend eines der einkaufszentren, da sind viele leute, da kann ich kaum verloren gehen. aber bist du schon einmal auf der rolltreppe gefahren mit dem gefühl, dass zwar das alles schon nach oben geht, gleichzeitig jedoch geht alles, also die rolltreppe und das ganze einkaufszentrum und du natürlich mit, rapide nach unten und du musst dich festkrallen am gummilaufband und zwar so, dass es ja niemand bemerkt. weil: wenn das alles bekannt wird, dann ist auch der nächste weg klar. in die klapsmühle. ein bisschen was fürs gemüt, dreimal täglich, und schon mutierst du zum hund und machst männchen. nein, das ist nichts, da ist die seele baumeln lassen die bessere alternative.

 

ein mann in indien hat siebzig jahre lang nichts gegessen und nichts getrunken. er produziert nichts, er konsumiert nichts. wenn ich das könnte. wenn ich diesen punkt finden könnte, an dem sich die energie neutralisiert und zur absoluten ruhe kommt. nur sein. kein werden. das gegenteil von heidegger. wie komm ich jetzt auf einmal auf heidegger? keine ahnung. in meiner situation heidegger. so ein blödsinn. der war mir schon immer unsympatisch. obwohl ihn die franzosen so hochloben. einer jener irrtümer, die dem denken aber dienlich sind. was aber hat das alles mit mir zu tun? zum teufel mit den franzosen, zum teufel mit heidegger. ich brauch einen job!

 

zeit in dem raum also. ohne eingesperrt zu sein. die zeit ist der ort des seins und das sein geht mit der zeit zu grunde. nur in den augenblicken des innehaltens, des stillstands ist beides dasselbe und löst, besser hebt sich auf, zu etwas uns nicht erzählbarem, nur erfühltem. wenige momente der liebe erleben wenige von uns, weshalb wir lebenslang hoffen.