der ventriloquist
die stimme kam tief von unten, aber wie weit man auch hinabsah, nirgends waren veränderungen bemerkbar, änderungen, welche auf den quell der stimme hätten schließen lassen. es war ihm wie jenem bergsteiger, der, auf der höchsten stelle der erde angelangt, seinen wunsch, in die lüfte zu steigen, derart heftig erlebte, dass er, ohne trauer oder selbstmitleid, mit größter entschlossenheit, die tausenden höhenmeter, die er mit letzter kraft in wochenlangen gewaltmärschen zurückgelegt hatte, kurz, schmerzlos und ohne anstrengung wieder hinter sich brachte.
er versuchte sich zu erinnern: vor sieben tagen, während eines spaziergangs in der frühlingssatten landschaft, knapp außerhalb der verschlafenen, ruhigen und gefährlichen kleinstadt, hörte er die stimme zum ersten mal. ganz klar und deutlich sprach sie zu ihm, er konnte sich diese wahrnehmung selbst jetzt noch bis ins kleinste detail wieder zurückholen, verspürte noch nach einer woche dieselben ängste und leisen freuden. wenn magensäfte plätschern, wenn heiße lüfte sich durch meterlanges gedärm mühevoll den weg nach außen verschaffen, bei diesen und ähnlichen vorgängen entstehen geräusche, stimmen des körpers.
dem naiven menschen äußerst peinlich, dem gebildeten nur als ergebnisse chemischer prozesse verständlich, lösen diese töne beim hörenden und sehenden feinfühligste mechanismen aus, denen lange meditationen und mühselige erkenntnisprozesse folgen. die verlogenheit unseres denkens zeigt sich auch bei solch innerlichsten empfindungen, welche wir entweder ignorieren, oder in demütigster art und weise diskreditieren.
wer kennt nicht die peinlichen augenblicke jener höflichen tafelrunden, wenn die gäste nach der kurzen willkommensrede des hausherrn, als zeichen des respekts und der einfallslosogkeit, ein paar minuten in schweigen verbringen und voller erwartung auf die tür des nebenzimmers starren, aus der bals die köstlichsten und teuersten delikatessen, auf die kunstvollste art von sachkundigen händen zubereitet, hervorgetragen werden sollten. dann füllen lauteres und leiseres gemurmel und gegurgel die vornehmen räume, dann wird mit verständniswerbendem lächeln nach verzeihenden augen gesucht, die damen ziehen ihre geruchstüchlein und räuspern sich fraulich, um die töne zu übertönen, die männer husten sich an ihrer ersten zigarre fest und erheben ihre stimmen, mehr als es angemessen wäre.
in der zwischenzeit arbeiten die stimmen aus dem organismus gegen die situation, kämpfen um ihr recht, um verständnis und anerkennung. fast gibt es einen aufstand, beihahe zerspringen die leiber wie luftballons, versuchen die urschreie aus den poren zu treten, da alle anderen menschlichen öffnungen mit eiserner konsequenz und härte jeder druckänderung eormen widerstand entgegensetzte. als ob die sprache des bauches etwas subversives wäre.
der ventriloquist erinnert sich wieder: an jenem nachmittag vor einer woche hatte er zum ersten mal verstanden.
sein bauch lebt. eigenständig.
er stellt sich vor: in einer großen verlassenen kathedrale wohnt der bauch. und lebt. zu mittag läuten die glocken. auch zu anderen besonderen mahlzeiten. speise- und luftröhre ragen in den himmel. das gaumenzäpfchen läutet. im bauch wird energie umgewandelt. durch verbrennungsprozesse. orgelmusik und weihrauch machen daraus ein mysterium. der bauch glaubt erhaben zu sein und fällt in die musik ein. er brummt mit. drückt sein wohlbefinden aus.
und wir bestrafen ihn. schämen uns seinetwegen, seiner freude wegen.
Es war eine große erkenntnis, ein neues erleben. der neue bauch, die neue sprache, ein neuer gesprächspartner. der ventriloquist war besessen von seiner neuen wirklichkeit, bis in alle winkel seines körpers fühlte er die neuen stimmen, zitterte er mit ihnen bis in die dunkle nacht hinein, freute sich am morgen seiner synphonien.
was anderes sollte die seele sein, als diese verlockenden klänge. unter der erde bewegen sich kräfte und schreien oft wortlos in unser leben.
früher waren die farben, welche er mit seinen geräuschen in verbindung gebracht hatte, eingeengt in die grauen zonen des hässlichen, des lusttötenden und langweiligen. braun hatte vielleich noch eine gewisse bedeutung. ebenso war das geschmackssystem beschränkt auf minimalgegensätze wie gut und schlecht. die sprachen hat für feineres schmecken keine worte. nur in verbindung mit vergleichen können unsere geruchserlebnisse beschrieben. es stinkt wie..., es riecht wie... wie anders war das leben jetzt geworden, seitdem hören und riechen aus sich selbst kultiviert und verfeinert wurden. der ventriloquist als impressionist. zunächst.
er hört in sich hinein. er ist eine ganze welt. unabhängig. entdeckt ganze erdteile neu, körperteile. er geht auf riesen, durch seine innereien. erklimmt mit größten mühen die verstecktesten höhlen seines magens. erlebt sich als abfalleimer. achtet auf verwesungen. wie empedokles in den vulkan hinein. nicht in panik. ruhig und gelassen. mit sicherer neugierde hinein in den leib. sich fallen lassen in das reich der geräusche und gerüche. erkennen was man ist.
das ist der mensch.
ein körper mit innenleben, der nach außen seine kämpfe verbirgt. die ehrlichkeit im kopf ist nur ein teil des aufrechten. die ehrlichkeit des bauchs ist bisher unerwünscht geblieben. sie wäre demaskierend. sie würde uns blamieren.
die fürze der queen wären englands verderben, der rülpser der papstes nach verschluckter hostie das ende der katholischen kirche. verschleierungen. zensuren. lügen mit jahrtausendalter tradition. mit tugend inzwischen. die gewaltsamen unterdrückungen nennen sich nun vornehm. man gibt vor, den körper im griff zu haben. das unvermögen wird zur kunst.
der ungebildete kann sich seiner materie nicht erwehren, der noble blickt fein durch die landschaft und lässt die winde heiß, doch unbemerkt ins all steigen.
keiner soll denken. nein, die trennung von körper und geist ist gelungen. das hirn, eine weiche, gallertartige masse, überbacken ausgezeichnet, ist uns kein symbol. es wäre schwer greifbar. wollten wir es anfassen,, es würde uns zwischen den fingern zerrinnen. ich liebe dein herz, deinen busen, deinen penis, auch das bäuchlein, selbst die nasenlöcher, nicht aber das hirn. wer hat es jemals geliebt. nicht verehrt. auf einem silberteller serviert, in gebräunten brotbröseln gefestigt, wird vielleicht der eine oder die andere den köstlichen duft lieben gelernt haben. das ist alles. das ist under geist. mancher kotzt dabei. wie abscheulich schmecken wir menschen, dass der gedanke an unser gekochtes fleisch übelkeit erregt. wir sind wie kochtöpfe wo krötensud und schlangenköpfe jahrein jahraus gesotten werden. in uns gärt und fault es täglich. ein ganzes leben lang muss es in unserm bauch nach verwesung und hölle riechen.
und wir sind fähig zu lachen. sind fähig die nase zu rümpfen, wenn jemand von seinem recht aufs riechen gebrauch macht.
es gab einmal ein kind, welches die meisten seiner darmwinde für sich und seine nachwelt aufbewahrt hatte. in der badewann ließ es die fürze langsam aus dem muskel gleiten, um sie mit der hohlen hand zunächst unter wasser zu halten. dann nahm es mit der anderen hand ein kleines fläschen, führte es zur luftblase und stülpte die flasche mit viel geduld über den furz. unter wasser zugestöpselt, uhrzeit und datum auf ein kleines, selbstklebendes etikett geschrieben, wurde das fläschen zu den anderen in eine ecke des kellers gestellt, wo das kind laut erziehungsplan der eltern hätte kinderspiele spielen sollen. in kürzester zeit jedoch hatte es den ganzen ihm zugewiesenen platz mit flaschen und fläschen aufgefüllt und bald beantragte es eine lagerplatzerweiterung, was von den verständnisvollen eltern auch genehmigt wurde. täglich stapelten sich winddosen. da das kind noch ein kind war, lebten in ihm große geister, welche nach erfahrung drängten. und so nahm es eines morgens einen strohhalm mit in die wanne, um sich selbst zu schmecken. und es holte sanft die blase aus dem bauch, hielt sie mit der hand fest, führte den strohhalm zwischen mittel- und zeigefinger äußerst vorsichtig zum furz, sog ihn ein und starb bald darauf erbärmlich und zufrieden eines qualvollen todes. wie verzweifelt und zerstört, als die eltern sahen, und der arzt den tod durch vergiftung festsstellte, wie verständlich der vater, dass er in seinem schmerz in den keller rannte, mit einem stock alle mühevollst gesammelten flaschen zertrümmerte, vergaß, dass er eine zigarette zwischen den lippen hatte, feuer im mund, und die freigewordenen lüfte sich an derselben entzündeten und hoffnungslos das ganze haus zertrümmerten.
das sind kräfte.
der ventriloquist denk. die verzweiflung steht mir im gesicht geschrieben. lange habe ich versucht, da und dort einen grashalm in sicherheit zu bringen, während ringsum alles wucherte, und vieles in sich zusammenzustürzen drohte, wie asche. wieso lässt keiner die welt absacken, absaufen in das dunkle loch, wegdriften vom normalkurs. warum sollen wir den untergang nicht beschleunigen.
es spräche nichts dagegen. die paar spärlichen abenteuer lohnen sich kaum. die zukunft ist zum abschalten, schönheiten unter gestickten bettdecken eher selten. selbst der gestank aus den mäulern am morgen wird bekämpft, verachtet, kein kuss vor dem zähneputzen, schnell aufs klo, um die unsauberen leben der nacht ins becken und in die muschel zu spülen.
immerhin ist einiges denkbar. dass gerade die hoffnungsloseste form der zukunftsarbeit sich durchgesetzt hat, spricht für die menschheit, für uns. nichts ist uns zu blöd. wir können mit offenen augen gar nichts sehen und mit verschlossenen das paradies. oder die hölle.
es stinkt wie galle. wir verachten unsere organe. eigentlich wird in unserem körper alles verachtet. alles greifbare, konkrete. wir ekeln uns vor unserem fleisch, vor unserem blut. doch das bedürfnis uns zu lieben wird trotzdem gestillt. durch die seele. durch abstraktion. die gute seele, der schöne geist. gleich zwei abstrakte begriffe fürs innenleben. seele und geist können nicht furzen, nicht rülpsen, nicht unangenehmes ausdünsten.
jene, die das abstrakte verwalten, leben ohne körper. so scheint es. sie verleugnen alles. sie bestreiten alles. sind immun. sie sind wie ein bienenschwarm. stehen bis zur selbstaufgabe zueinander.
der ventriloquist hat sich vorgenommen sie zu neutralisieren.
plötzlich riecht es in den parlamenten. sehr aufdringlich. die klimaanlage funktioniert. die abgeordneten werden nervös. der redner nimmt sein schweißtuch und hält es vor die nase. befeindete parteien wechseln giftige blicke. sabotage wird vermutet. ein erstes wort fällt. gar kein beleidigendes, aber es genügt. einer steht auf. viele folgen seinem beispiel. erregte fratzen sind zu erkennen. in der vom ventriloquisten angefüllten luft bewegen sich die hände. drohen. ringen nach sauerstoff. die fensterscheiben sind kugelsicher, die türen sind geöffnet, doch bewacht.
noch ist niemand an gestank gestorben, sagte die großmutter, an kälte jedoch schon, und verharrte auf ihrem sofa in der küche, während der kalten abende, und weigerte sich, das fenster zu öffnen.
noch nicht. oder doch. im regen der duschen zu seifen geschmolzen. vieles wird vergessen. die geräusche aber bleiben. die gerüche der kindheit. es ist möglich wie ein hund durchs leben zu gehen. wie ein spürhund.
seit einigen tagen putzt sich der ventriloquist die nase täglich dreimal. er schneuzt sich nicht, er putzt. säuberlich werden die feinsten staubteilchen aus den innenseiten der nasenflügel mit weichster watte entfernt, werden die härchen aus den dunklen löchern rasiert, um solcherart möglichst jede geruchsvariation wahrnehmen zu können.
es galt versuche anzustellen. die genaue wissenschaftliche erforschung. in welcher weise ist ein rülpser abhängig von a) pysisch-psychischer verfassung des individuums, b) von äußeren einflüssen, wie wetterlage, gesellschaftssystem, historischen gegebenheiten, c) vom zusammenhang des weltalls.
tagelang produzierte der ventriloquist unmengen von rülpsern, analysierte, katalogisierte, änderte die bedingungen, versetzte sich in extremsituationen. er nahm seine rülpser auf band auf, ließ dazu eine kamera laufen. stürzte sich in gewaltige unkosten. rücksichtslos. besessen vom gedanken an eine neue weltordnung, die der menschheite zur befreiung von der geißel der lüge helfen sollte.
bei tag, bei nacht, in jeder erdenklichen position, keine gelegenheit war ihm zu minder oder zu vornehm, um nicht seine experimente anzubringen. nicht immer verlief alles planmäßig. selbst um seine sicherheit musste er bangen. einmal wurde er aus einem bordell inmitten eines hochkomplizierten versuchs von rohen männerhänden gewaltsam aus dem haus geworfen.
liebe geht durch den magen. das ist ein sprichwort. beziehungen werden geklärt. die von körpergerüchen verseuchten parlamente waren lieblos. deshalb das chaos. es ist möglich, wie ein hund durchs leben zu gehen. vorausriechend, zurückriechend. ein bastard überlebt leichter als die hochgezüchteten rassen mit abgeschnittenen schwänzen, verstümmelten ohren, zerquetschten nasen.
wer seine riechende seele in die welt lässt, wird freunde finden und feinde erkennen. wer wind und blähungen lieben lernt, wird sich selbst lieben. schamlos, ausgebeutet. ich kann dich lieben, wie du da duftest nach dir selbst, ohne schminke, ohne filter.
der ventriloquist legte sich schlafen. er sprach noch lange und heftig in sich hinein und aus sich heraus. sein ende ist nicht abzusehen. nicht auszudenken. riesenballone, zeppeline, startende raumfähren, ein zimmer voll veilchen, rosen, buchsbaumblättrigen kreuzblumen.
(Aus: Landmassaker. Ausgewählte Kurzgeschichten des Lesezirkel-Wettbewerbs. Edition S, Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei 1986)