mai tokyo
peter giacomuzzi
2013
in diesen gassen kann ich mir die schönsten tode denken
der schelm tucholsky war nie hier, doch seine zeilen lenken
hin zu mir. ein knappes halbes leben hab ich hier verbracht
und niemals jemandem ...
nachtleben in tokyo.
den huren bin ich ausgestellt. vielleicht des geizes wegen.
doch sind es auch die zeichen, die das blut erregen.
rechts oben kann ich lesen: sapporo ramen. viel mehr ist nicht passiert in meiner alphabetisierung. ein falsches wort, das alphabet. es passt zu diesen zeichen nicht. ausgehen in der metropole war meist ein freudiges irren in diesen gassen, die auch keine waren, weil diese häuschen und buden, wild durcheinander gewürfelt und ohne für uns erkennbare ordnung, unserer vorstellung von gemauerten dunklen steingebäuden widersprechen. die gasse ist die gosse. hier nicht. hier lebt es sich ganz leicht ab abends, so gegen acht.
tagsüber unscheinbar und ruhig, gehen nachts die lichter an und führen und verführen menschen in die welt der heiterkeit, des rausches und des lotterlebens. hier wird der graue tagesanzug an die wand gehängt, krawatten hängen offen an den hälsen, es gibt ein leben nach dem tod.
„いらっしゃいませ irasshaimase. herzlich willkommen. nur herein.“ so locken die wirte die kunden. und das fleisch die lust. was sich verbirgt in diesen wegen? alles. und nichts. das geheimnis bleibt nur so lange eines, bis sich die schrift als lesbar erweist. ich mag keine sapporo ramen.
das motorrad hat sich nicht verirrt. es gehört hierher und wird gebraucht. und selbst ein kleines auto würde dieses bild nicht stören. der halbe kofferraum noch auf der straße, und ordentlich geparkt.
leuchtreklamen, bannerschilder. es ist was los und doch ist niemand hier zu sehen. wo sind die leute? metropole auf dem land. hier sind millionen unterwegs. maulwurfstadt. denkbar ist es, dass sich die kanaldeckel heben und das heer der anzüglichen salarimänner kurz die gasse belebt, um gleich dann sittsam und geordnet sich einen veritablen rausch anzusaufen.
die kabel oben in der finsternis verbinden diese wände außenhin. es sind die zarten fäden, nie straff, nie fest, ein erdstoß könnte sie zerreißen. so sind es filigrane adern, die das system zum pilz erheben. verflechtungen, die nie ein ende nehmen, und den menschen hinter diesen wänden die nötige sicherheit geben, wenn nach dem alkohol die beine nicht mehr mögen, den rechten weg nach haus zu finden.
stillleben in der gasse
hast du die kleine ratte gesehen
hinten im bild, da ist
wenn du sehen kannst
der winzige zipfel des langen schwanzes
der in der drehung um die ecke
ganz leicht sich nach oben wölbt
siehst du die ratte?
sie zeigt uns genau
den weg hin ins leben.
die welt ist nicht rau
ist freundlich und liebvoll
der sake verspricht, und rauch füllt die lungen
ein müdsein ein schlafen
wach sind die dummen
die rote laterne nicht ganz in der mitte hat wenig zu tun mit dem rotlichtmilieu. hier gibt es kein rotlicht, alles ist weiß und ist hell und die nacht wird zum tag, wie er sein sollte und nie ist. die rote laterne der lust. doch lust in der gasse ist sprechen und fühlen und trinken beim rauch. der wind streift um die ecke, die bannerstangen klirren leis und sicher, die ratte wartet auf den müll.
dreh dich nie um, wenn du von einem solchen ort nach hause wankst, er lässt dich nicht mehr los. ein kleiner teil von mir ist dort geblieben und wartet, dass ich ihn suchen komme. mir ist so heimelig zu mute.
nightlife in tokyo
in these alleys i can think of the most beautiful deaths
mischievous tucholsky was never here, but his lines go
back to me. almost half a life i’ve spent here
and never to anyone...
i am exhibited to the prostitutes, perhaps out of greed.
but there are also the characters that excite the blood.
i can read at the top right: sapporo ramen. i didn’t learn much more of the alphabet than that. a wrong word, the alphabet, it doesn’t fit with this character. going out in the metropolis was usually wandering about happily lost in these alleys that were not such because these little houses and hangouts, wildly jumbled and without any apparent order for us, contradict our idea of walled in dark stone buildings. this alley is the gutter. not here. life really gets going here in the evening, around eight.
inconspicuous and quiet during the day, the lights go on at night and lead and seduce people into the world of gaiety, intoxication, and dissolute wild living. here, the gray suit of day is hung on the wall, ties are open around the necks, and there is life after death.
“いらっしゃいませ irasshaimase. welcome! come on in!“, this is how the nightclub owners lure the customers and the flesh, the lust, what lurks around in these paths? everything and nothing. the secret lasts only until the writing is readable. i don’t like sapporo ramen.
the motorcycle has not strayed. it belongs here and is needed, and even a small car would not disturb this image: half of the trunk is still on the street and correctly parked.
neon signs, banner signs. there’s a lot happening now and yet there is nobody around to be seen. where are all the people? it is a metropolis in the country, there are millions of people on the move here. it’s a city of moles. it is conceivable that the manhole covers open up and the army of salarymen in suits briefly liven up the alley, to then get really plastered right away in a decent and orderly way.
the cables up in the darkness connect these walls to the outside. these are the delicate threads, never tight, never fixed, an earthquake could tear them. there are fine veins that cause the system to mushroom. interactions that never end and people behind these walls provide the necessary safety, when, after alcohol, the legs don’t want to find the right way back home.
still life in the alley
have you see the little rat
that’s there in the back of the picture
if you can see
the tiny tip of the long tail
that slightly arches up
in the curve around the corner
do you see the rat?
it shows us exactly
the way to life.
the world isn’t raw
it is kind and loving
the sake promises and smoke fills the lungs.
a little tired, a little sleep
the dummies are still awake.
the red lantern not quite in the middle has little to do with the red light milieu. here, there is no red light, everything is white and bright and the night becomes day like it should be and never is. the red lantern of desire, yet desire in the alley is speaking and feeling and drinking in the smoke. the wind roams around the corner, the banner poles clinking softly and secure, the rat waits for the garbage.
never look back if you totter home from such a place, it won’t let you go. a small part of me is still there, waiting for me to come find it. i feel so much at home.