und vibrationen

 

 

 

unlängst habe ich meine großmutter wieder getroffen. sie hatte sich kaum verändert. eher wirkte sie jünger. ich war in der lärmenden stadt unterwegs. alles was leuchtet ist geld, alles was dröhnt ist geld. die geldbezirke der städte sind inzwischen heller und lauter geworden. auch konzentrierter. kaum noch übergänge möglich. mauern von lichtern und tönen. dahinter das schweigen. die dunkelheit. dort stand ich im trubel und großmutter war unscheinbar an meiner seite und sagte, komm, lass uns hinter die mauer gehen. für das da bin ich wohl schon zu alt. wie immer, sprach sie nicht sehr viel, aber das gefühl, sie an meiner seite zu haben, war angenehm.

wir gingen eine weile hierhin und dorthin, auf der suche nach einem ausweg in die ruhe, aber irgend etwas ließ uns im kreis gehen, immer wieder waren wir an dieselben orte zurückgekommen und mir sank bald der mut. als die großmutter sich dann wieder verabschiedet hatte, ging ich ins nächste lokal und stürzte ein bier in mich. die leute, die dort saßen, kannte ich nicht. einige waren vor bildschirmen und hatten alleine kontakt mit der welt. ihnen zuzusehen war entspannend. hier gab es viele kosmische räume. jeder getrennt, seite an seite, oft gegenüber und entfernt voneinander, so weit wie die erde groß sein kann.

wenn jemand dich wieder besucht, ist nicht mehr klar, wer zu wem kommt. und ob die toten jetzt die lebendigeren sind. du sitzt dann bei deinem bier, und die vorstellung von einem anfang und einem ende will so recht nicht mehr passen, alles wird zu einem kreis, dann zu einem knäuel, und nach dem letzten bier ist das dann auch schon egal. die großmutter jedenfalls machte einen rüstigen eindruck. vergänglichkeit scheint dabei keine rolle zu spielen. das bild von ihr ist immer dasselbe, ob in den erinnerungen als kind oder als erwachsener. wenn ich auf fotos die junge frau betrachte, die sie darstellen sollen, weiß ich, dass dies so nicht sein kann.

da also lebst du jetzt, sagte sie. die lichtreklamen warfen schnelle und grelle schatten durcheinander, musik aus den lautsprechern deckte alles zu. nicht ein einziger stern war zu sehen, obwohl schönstes wetter sein sollte. ich spürte die kleine hand der großmutter, wie sie sich unter meinen ellebogen schob, um halt und schutz zu suchen. es war ein sanfter druck und er gefiel mir gut. die haut war dünn geworden, wie pergament. wenn man sie zusammendrückte, dauerte es eine kleine ewigkeit, bis sie sich wieder in falten geglättet hatte.

auf der suche nach einem ausweg aus den lichtern und tönen sind wir dann durch ein viertel gekommen, in dem alle denkbaren formen von sex und erotik angeboten wurden. peitschende mädchen, urinierende männer, sex mit oder ohne, von vorne oder hinten, oben oder unten, alleine oder dutzendweise. alles hatte seinen preis, nur die eingänge wirkten ein wenig kleiner. wer braucht denn so was, fragte da die großmutter, und ich zuckte nur ahnungslos die schultern, da ich noch nie den mut hatte, durch eine dieser türen zu gehen.

komm her, sagte die großmutter und ging ohne probleme durch die mauer, die den lärm vom schweigen trennte und das licht von der dunkelheit. ich aber stieß mir den kopf an dieser mauer wund und es war für mich kein durchkommen. dann gehen wir eben ein bisschen noch bei dir spazieren, sagte sie und kam zurück. ich hab ein paar geschichten hier bei mir, die kann ich dir erzählen. ihre stimme klang heiter und obwohl ganz leise vorgetragen, schienen mir die folgenden gedichte wie die herzschläge der mutter inmitten des lärmenden, gurgelnden rauschens im fruchtwasser.

so also sprach sie. für sich. zu mir. großmutters sechs gedichte:

 

 

 

 

das 1.

als es vorbei war wollte ich

was ich grad groß gefühlt

schnell niederschreiben

dabei stellt sich heraus dass raum und zeit

doch sehr verschieden waren

denn während die gedanken eilten

die hand war viel zu langsam

hinkt immer hinterher

dadurch jedoch wurd die geschichte erst

zu einer schönen

 

 

 


das 2.

der vorsatz ihn zu fragen

mir einen einzgen kuss zu geben

wo meine heißen lippen

wie feuchtes moos an seinem munde kleben

hingebungsvoll verloren

dies ziel hatt ich den ganzen abend

im hinterkopf und darum schien

sichs nur zu drehen

beim abschied dann

vergaß ich diese frage

 

 

 


das 3.

du musst dein leben ändern

sagt ich mir oft

bis mir bewusst dass ich mein eignes leben war

ein apfel kann sich auch nicht ändern

 

 

 

 

das4.

nach dem regen und der kälte

war der himmel strahlend blau

und der berg saß mächtig ruhig

 

 

 


das5.

die verstorbne mutter grüßte

freundlich ging sie ihres weges

wurd aber nur dies eine mal gesehen

 

 

 


und das letzte

nachdem die mörderin sich selbst

die kugel durch den leib gejagt

war sie beruhigt und lebte

bis hin zum tod

normal

 

 

 


da ich auch als kind nach einem märchen nichts zu sagen brauchte, schwieg ich auch jetzt und betrachtete gerade, wie von einem bildschirm auf der straße ein elektrischer stuhl in unsere augen drang, worauf in den nächsten minuten einer seiner gerechten strafe überführt werden sollte. ein eindeutig hässlicher stuhl. macht dir keine sorgen, sagte die großmutter. früher wurde geschlachtet, heute elektrisiert. es bleibt sich gleich. wir sind nicht nachtragend und seinem ende entgeht niemand. die vorstellung vom schönen sterben ist was für die lebendigen. der übergang am ende bleibt so schwierig wie der am anfang, nur umgekehrt.

der stuhl aber ging so schnell doch nicht aus meinen augen. ich hörte die stimme der großmutter, aber ich hörte ihr nicht mehr zu. sie sprach weiter und ich sah den körper im stromkreis, die muskeln, die aus ihren umfassungen auszubrechen drohten, unkontrolliert, festgeschnürt mit gummiriemen an hand- und fußgelenken, oberschenkeln, brustkorb und hals. gefesselt und bestromt.

ich hab damit nichts zu tun. ich war grad wieder im viertel mit den kleineren türen und da war auch eine frau festgebunden in der auslage, und der elektrische vibrator zwischen ihren beinen schien ihr zu gefallen. ein paar männer beobachteten das schauspiel mit ernster miene. die frau war unfähig sich zu bewegen, der vibrator mit einem gurt an ihre hüften gebunden. die männer fragten sich, ob so ein zustand ewig dauern kann.

hätte ich jetzt den verurteilten auf dem elektrischen stuhl gesehen, wär mir wohler gewesen. die leere aber und die gewissheit eines sauberen mordes machten die vibratorbeglückte frau zur vollstreckerin des urteils auf dem anderen schirm. großmutter war verschwunden. ihre gedichte hatte ich als lose wortsequenzen noch im kopf, darüber legten sich der obszöne stuhl und die frau in der auslage. ich hörte unklar die musik der lautsprecher, tief drinnen im ohr hämmerten stromstöße im takt von großmutters versen auf nacktes fleisch

 

 

 

 

dadurch jedoch wurd die geschichte erst

hingebungsvoll verloren

du musst dein leben ändern

nach dem regen und der kälte

freundlich ging sie ihres weges

bis hin zum tod

 

 

 


ein bier und tür auf und in eine andere welt, die von dieser nur ein teil ist. meine augen verlieren sich in den bildschirmen der tippenden gäste. jede taste löst irgendwo erdbeben aus, von denen niemand was erfährt. das schamlose der fakten erregt das blut, die fakten erzeugen sich selbst. von selbst vernichten sie sich auch wieder. die finger tasten keine körper mehr ab, die augen sehen sich zu ende. so werden die blinden zu sehenden und verschwinden in den maschinen.

ich saß da und merkte, dass sich meine substanz aufzulösen begann wie die pixelzahl auf den bildschirmen. die konturen des körpers verspürten ein flimmern an den rändern und bewegten sich in richtung zweidimensionalität. inmitten der bilder war ich selbst eines geworden. ich fühlte kein gewicht mehr in mir. auf meinem bildschirm war die frau mit dem vibrator auf dem elektrischen stuhl, und jetzt hätte man ein spiel beginnen können mit diversen möglichkeiten, mit begnadigung oder härteren strafen. ich wollte sie befreien und begatten, jedoch wuchs auch die angst vor stromstößen und damit meine lust.

ich schloss die augen und sah den stuhl mit den riemen wieder und hörte elektrische töne. meine lippen bewegten sich und großmutter sprach ihre gedichte noch einmal in meinem mund